Europe.Table
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Professional Briefing
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#1000 / 7.
August
2025
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Editorial
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Wie gut
Europa
seine Aufgaben bewältigt – eine
Zwischenbilanz
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Von
Till Hoppe
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Ist Europa fit für eine sich rasant
verändernde Welt? In dieser
Sonderausgabe, der 1000. von
Europe.Table, analysieren wir, wie
weit
die EU in den vergangenen Jahren bei
den
großen Aufgaben vorangekommen ist.
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„Die fossile Wirtschaft hat ihre
Grenzen
erreicht“: Mit diesen Worten stellte
Ursula von der Leyen am 14. Juli
2021
ihr Fit-for-55-Paket vor. Ein
riesiges
Maßnahmenbündel, mit dem die
Kommissionspräsidentin Europa den
Weg
zur Klimaneutralität und einem neuen
Wirtschaftswunder weisen wollte. In
der
allerersten
Ausgabe von Europe.Table
hatten
wir über die Pläne berichtet.
Heute lesen Sie bereits die
1000.
Ausgabe unseres Professional
Briefings. Wir haben in
den
vier Jahren die Fit-for-55-Gesetze
und
viele andere eng begleitet auf ihrem
Weg
durch den Gesetzgebungsprozess. In
dieser Sonderausgabe wollen wir das
größere Bild betrachten: Wie weit
ist
die Europäische Union in diesen gut
vier
Jahren vorankommen? Ist die als
behäbig
verschriene Gemeinschaft fit für
eine
sich rasant verändernde Welt?
Wir haben uns dafür die
großen
Themen aus unserer Anfangszeit
neu
angeschaut: den Green
Deal,
die versuchte Zähmung der
Digitalkonzerne, den Streit um
E-Fuels
und Verbrenner-Aus. Und auch das
stete
Ringen der Bundesregierung mit sich
selbst, das zu häufig im German Vote
endete. So viel lässt sich sagen:
Europa
kommt voran – aber der Weg verläuft
wahrlich nicht gerade.
In einer Frage, immerhin,
sind
sich die Europäer einig: Der
Döner
gehört allen. Diese
Nachricht von Agrarkommissar
Christophe
Hansen erreichte uns am Mittwoch
gerade
noch rechtzeitig vor der
Mittagspause,
wie Sie am Ende dieser Ausgabe bei
meinem Kollegen Manuel Berkel
nachlesen
können. Ich wünsche Ihnen eine
bekömmliche Lektüre!
Ihr Till Hoppe
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Alle Rechte vorbehalten
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Analyse
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Bedingt sprechfähig: Wie Merz
German Votes verhindern will
|
Von
Till Hoppe
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Deutschland positioniert sich in Brüssel erst spät oder
gar
nicht: Die Malaise deutscher Europapolitik verschärfte
sich
unter der Ampel-Regierung. Friedrich Merz setzt nun auf
eine
straffe Koordinierung durch das Kanzleramt – doch erste
Konflikte zeichnen sich bereits ab.
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Es ist ein Thema, das uns seit
den Anfängen von Europe.Table begleitet: das German
Vote. Deutschland bringt in Brüssel nicht sein
volles Gewicht auf die Waage, weil die
Koalitionsregierungen
sich nicht einigen können und Ministerien sich in
endlosen
Abstimmungsschleifen verlieren. Der CDU-Europapolitiker
Elmar Brok konstatierte schon 2021: „Die Bundesregierung
ist
in Brüssel zu häufig nicht sprechfähig.“
Die Ampel-Koalition sah zwar das Problem und
gelobte
Besserung. Doch das zunehmend zerrüttete
Verhältnis von SPD, Grünen und FDP schlug sich auch im
Abstimmungsverhalten im EU-Rat nieder: Enthielt sich die
Bundesregierung 2022 laut EU
Council Monitor der Stiftung Wissenschaft und
Politik nur ein einziges Mal im Rat mangels Einigkeit,
war
dies im letzten Jahr der Ampel 2024 bereits achtmal der
Fall.
Teils stritten die Koalitionäre öffentlich.
Etwa über Verbrenneraus, Lieferkettenrichtlinie
oder Plattformarbeit. Der Tiefpunkt: Kanzler Olaf Scholz
setzte per Richtlinienkompetenz ein Nein gegen die Zölle
auf
Elektroautos aus China durch – um anschließend
festzustellen, dass die Bundesregierung damit weitgehend
allein stand im Kreis der EU-Staaten.
Sein Nachfolger Friedrich Merz will vieles anders
machen. Der neue Kanzler hat die
Europapolitik
zur Chefsache erklärt und die Devise ausgegeben,
ein German Vote müsse zur absoluten Ausnahme
werden. In den Koalitionsverhandlungen mit der SPD
drängte
er auf eine Zentralisierung der Europakoordinierung bei
sich
im Haus.
Am Ende einigte man sich darauf, die Rolle des
Kanzleramtes in zentralen EU-Dossiers zu stärken.
Mit Michael
Clauß holte Merz einen intimen Kenner des
Brüsseler
Apparats als Berater zu sich, der als Machtzentrum in
der
Europakoordinierung fungieren soll. Als langjähriger
EU-Botschafter kann er auf sein
exzellentes
Netzwerk zurückgreifen. In den heiklen Zollverhandlungen
der
Europäischen Kommission mit der US-Regierung etwa
tauschte
sich Clauß eng mit Ursula von der Leyens Kabinettschef
Björn
Seibert aus.
Als Botschafter hatte Clauß selbst den Finger in
die
Wunde gelegt: In einem internen Drahtbericht
bemängelte er, die Bundesregierung sei in Brüssel zu oft
nicht handlungsfähig. Um die Koordinierungsarbeit
leisten zu
können, soll seine Europaabteilung im Kanzleramt um ein
bis
zwei Referate aufgestockt werden.
Die Probleme liegen auf der Hand: In der
Ampel verhakten sich die Ministerien teils auf der
Arbeitsebene, ohne dass die Konflikte frühzeitig von der
politischen Leitung angegangen worden wären. In anderen
Fällen traten (FDP-)Minister erst spät im
Gesetzgebungsverfahren auf die Bremse – und sorgten
damit
auch in Brüssel für Kopfschütteln.
Schwarz-Rot will Konflikte früher identifizieren
und
möglichst lösen. Dazu gehört eine
intensivere
Befassung im Kabinett, wo EU-Dossiers
zuvor
meist nur pro forma behandelt wurden. So diskutierten
die
Ministerinnen und Minister im Vorfeld intensiv über die
deutsche Position
zur EU-Finanzplanung.
Der Merz-Vertraute Thorsten Frei hat dabei eine
Schlüsselrolle inne. Als
Kanzleramtsminister
leitet er die Runde der beamteten Staatssekretäre, die
montags die Kabinettssitzungen am Mittwoch vorbereitet
und
nun auch strittige EU-Themen schlichten soll. Frei nehme
die
Aufgabe ernst, heißt es in
Regierungskreisen, er lasse sich von Clauß intensiv
vorbereiten und entscheide auch.
So geschehen in der Frage der
Fluggastrechte: Die polnische
Ratspräsidentschaft wollte einen alten Vorschlag der
EU-Kommission wiederbeleben, der die Passagiere von
Airlines
bei Verspätungen deutlich schlechter stellt. Das
CDU-geführte Verkehrsministerium unterstützte den
Vorstoß,
das SPD-geführte Justiz- und
Verbraucherschutzministerium
opponierte. Frei schlug sich dem Vernehmen nach
schließlich
auf die Seite von Justizministerin Stefanie Hubig.
Auch auf Arbeitsebene wollen CDU und SPD
nachbessern. Die vier
EU-Koordinierungshäuser
Kanzleramt, Auswärtiges Amt, Wirtschaftsministerium und
Finanzministerium überwachen nun laufend, bei welchen
kritischen EU-Dossiers sich mögliche Konflikte
abzeichnen.
Die Abteilungsleiter bereiten so die Runde der
Staatssekretäre vor.
Die neue Struktur muss sich
gleichwohl erst bewähren. Zu Beginn
harmonierte
auch die Ampel recht gut. Zudem besetzt die CDU allein
drei
der vier koordinierenden Häuser. Das berge „die Gefahr,
dass
die SPD bei bestimmten Themen erst spät feststellt, dass
sie
nicht einverstanden ist und es dann erneut zu
öffentlichen
Konflikten kommt“, warnt SWP-Experte Nicolai von
Ondarza.
Erste Konflikte schwelen bereits. Merz
will
die EU-Lieferkettenrichtlinie CSDDD ganz abschaffen, für
die
SPD kommt das nicht infrage. Allein die polnische
Ratspräsidentschaft bewahrte die Koalition vor ihrem
ersten
German Vote: Sie verzichtete bei der Positionierung im
laufenden Omnibus-Verfahren auf ein Votum im Rat, fragte
stattdessen nur die Meinungen der Mitgliedstaaten ab.
Die
deutsche Vertreterin blieb stumm.
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DSA und DMA: Warum die
Durchsetzung
der Digitalregeln stockt
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Von
Corinna Visser
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Mit ihren neuen Digitalgesetzen wollte die EU die
Big-Tech-Konzerne zähmen. Doch deren Durchsetzung krankt an
Personalmangel und politischen Rücksichtnahmen. Nun
diskutieren
Politik und Experten über die richtige Reaktion.
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Nichts weniger als die digitale Verfassung Europas nannten
einige
Beobachter den Digital Services Act und den Digital Markets
Act,
als Europe.Table im Sommer 2021 die Berichterstattung
aufnahm.
Die Digitalgesetze sollten menschenzentrierte,
demokratiefördernde und rechtsstaatliche Prinzipien im
digitalen
Raum schützen, für fairen Wettbewerb sorgen – und im besten
Fall
Vorbilder für Regelwerke auf der ganzen Welt werden.
Inzwischen ist Ernüchterung eingetreten.
Weder
folgen wichtige Verbündete dem Beispiel der EU – in den USA
ist
sogar das Gegenteil eingetreten. Noch haben die Gesetze
durchschlagende Ergebnisse gezeigt. „Die Zeitspanne ist noch
zu
kurz, um wirklich sagen zu können, was DMA und DSA bringen
können“, sagt Marc Liesching, Professor für Medientheorie
und
Medienrecht an der HTWK Leipzig.
Andere sind weniger geduldig. Es habe zwei
Hauptziele gegeben, sagt die Europaabgeordnete Alexandra
Geese,
Schattenberichterstatterin der Grünen für den DSA: die
Überwachung durch Profiling und Targeting zu beenden sowie
genutzte Algorithmen transparent zu machen und zu verändern.
Die
gängigen Algorithmen mit interaktionsbasiertem Ranking
hätten
dazu geführt, dass Desinformation
sich schneller verbreite als Information. Im DSA
habe
die Kommission die Möglichkeit, solche
Algorithmen ersetzen zu lassen. Ziel müsse es sein,
dass
sich Nutzer wieder selbst aussuchen könnten, nach welchen
Kriterien Inhalte zusammengestellt werden.
Tiemo Wölken gehört zu denen, die den DSA ein
digitales
Grundgesetz nennen. „In der Praxis ist das aber
noch nicht wirklich so umgesetzt“, konstatiert der
SPD-Europaabgeordnete, Berichterstatter des EU-Parlaments
für
den Initiativbericht zu Digitalen Diensten. Er bemängelt,
dass
die Durchsetzung des Gesetzes keiner unabhängigen Behörde
obliege, sondern der Kommission. Damit sei die Durchsetzung
auch
politisch.
Für Wölken bleibt personalisierte Werbung das
Kernproblem
des auf Aufmerksamkeit ausgerichteten
Plattformgeschäftsmodells. Er will „weiterhin
ein
Phase-out
von personalisierter Werbung“. Das Verbot hatte es
nicht
in das Gesetz geschafft. Wölken hält den DMA für deutlich
schneller und effektiver in der Anwendung als den DSA. So
läuft
das
DSA-Verfahren gegen X zum Beispiel seit Dezember
2023.
Aber auch beim DMA kommen die Verfahren nur
schleppend
voran. Von 47
angestoßenen Untersuchungen endeten zwei im April
dieses
Jahres gegen Apple und Meta mit Millionenstrafen. Eines
wurde
geschlossen, die anderen laufen noch. „Es war von vornherein
abzusehen, dass die begrenzten Ressourcen der Kommission als
Aufsichtsbehörde eine Herausforderung für einen schnellen
flächendeckenden Vollzug des DSA darstellen könnten“, sagt
Liesching.
Die geopolitische Situation ist eine weitere
Herausforderung. Geese und Wölken warnen vor
Kompromissen bei der Durchsetzung der Digitalgesetze. Geese
nennt es „unglaublich frustrierend“, dass sich die EU durch
die
Zolldrohungen der USA einschüchtern lasse.
Eine weitere Herausforderung ist die
Weiterentwicklung
der Technologie. Für Albrecht von Sonntag,
Mitgründer des Preisvergleichsportals Idealo, steht außer
Frage,
dass der DMA auch für neue KI-Produkte wie AI Overviews von
Google gilt. Diese Übersicht biete eine neue Dienstleistung,
eine KI-generierte Antwort. Der DMA schreibt vor, dass
Gatekeeper ihre eigenen Dienstleistungen nicht gegenüber
ähnlichen Dienstleistungen anderer Anbieter bevorzugen
dürfen.
„Die KI-Antwort von Google ist ein separater Service, der in
die
Google-Suche eingebettet ist und an erster Stelle
positioniert
wird“, kritisiert von Sonntag. Das widerspreche eindeutig
den
Regeln des DMA.
Der DMA müsse erweitert werden, sagt von
Sonntag. So könnten Bürger und Verbraucher bei
der
Nutzung von KI-Anwendungen geschützt werden. „Dafür muss die
Kommission Large Language Models als potenzielle Core
Platform Services dem DMA unterwerfen“, fordert von
Sonntag.
Andere sehen schnelle Änderungen an den
Digitalgesetzen
kritisch. Geese warnt davor, den DMA und
DSA in den geplanten Digitalpolitik-Omnibus
aufzunehmen: „Wir sollten das erstmal durchsetzen, bevor wir
darüber nachdenken, es zu revidieren“. Und Liesching von der
HTWK Leipzig warnt: „Wenn ich ein Gesetz jedes Jahr oder
alle
zwei Jahre reformiere, habe ich weder für betroffene
Unternehmen
noch für zuständige Behörden Rechtssicherheit.“ Diese sei
jedoch
Voraussetzung für eine effektive und nachhaltige Umsetzung.
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Wie der Green Deal umdefiniert
wird
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Von
Lukas Knigge und Manuel Berkel
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Die erste Ausgabe des Europe.Table erschien am Tag vor der
Präsentation des Fit-for-55-Pakets. Es sollte den Green Deal mit
Leben füllen. Vier Jahre später schauen wir, was daraus geworden
ist.
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Es scheint lange her, als die EU-Kommission ein wegweisendes
Klimaschutzpaket auf den Tisch legen konnte, ohne einen
Aufschrei zu
erzeugen. Zwar gab es auch am 14. Juli 2021 Kritik
am Fit-for-55-Paket, doch war diese lange nicht so
grundsätzlich wie heute. Es waren vor allem Details, die von
Mitgliedstaaten, Abgeordneten, Wirtschaftsvertretern und NGOs
noch
ent- oder geschärft werden sollten.
Das Ziel war weitgehend unstrittig: Die
Treibhausgasemissionen der EU bis zum Ende des Jahrzehnts mehr
als
zu halbieren, und als erster Kontinent bis Mitte des
Jahrhunderts
gar klimaneutral zu werden. Kommissionspräsidentin Ursula von
der
Leyen sprach von Europas „Man on the Moon“-Moment.
Das blieb eine ganze Weile so. Auch wenn die
Verhandlungen zwischen Rat und Parlament hart und kontrovers
geführt
wurden, was Politikern sowie uns Journalisten die eine oder
andere
lange Nacht bescherte. Es ging eher um mehr Klimaschutz, nicht
um
weniger. Mit der Energiepreiskrise und REPowerEU kam wenige
Monate
später sogar ein zusätzlicher Schub für die Dekarbonisierung:
Erneuerbare Energien galten weithin als Weg zu mehr
Unabhängigkeit
und Wettbewerbsfähigkeit.
Erreicht wurde so einiges. Die Ziele des Effort
Sharing und des Emissionshandels wurden erhöht, einer neuer ETS
für
Gebäude und Verkehr geschaffen, inklusive Fonds für den sozialen
Ausgleich. Hinzu kamen der CO₂-Grenzausgleichsmechanismus
(CBAM),
stärkere Erneuerbaren- und Energieeffizienzvorgaben und eine
Marktordnung für Wasserstoff. Nur auf ökologischere
Energiesteuern
konnten sich die Mitgliedstaaten noch nicht einigen.
Der Wind hat sich jedoch inzwischen gedreht. Die
wirtschaftliche Lage wurde schwieriger, konservative und
populistische Parteien verzeichneten bei den Europawahlen
Zugewinne.
Auf Druck der EVP hat von der Leyen ihren Green Deal zum Clean
Industrial Deal umgetauft. Unter dem Narrativ der
Wettbewerbsfähigkeit will sie ihr Projekt so im Kern
verteidigen.
Sie gibt dafür auch vieles auf, was ihr nicht zentral zu sein
scheint. Einige der Omnibus-Gesetze sind Ausdruck dessen. So
werden
gerade erst beschlossene Gesetze nun als zu bürokratisch
empfunden
und teilweise wieder entschärft.
Offenkundige Erleichterungen sind bislang rar.
Im
Omnibus für den CBAM
hatte es die Kommission geschafft, 91 Prozent der betroffenen
Unternehmen von Berichtspflichten zu verschonen, aber trotzdem
99
Prozent der Emissionen zu erfassen. Doch in anderen Bereichen
hatten
die Gesetzgeber schon in den Beratungen beschlossen, kleine und
mittlere Unternehmen auszunehmen – etwa von
Energieeffizienz-Audits.
Der Beschluss für das nächste Klimaziel steht unterdessen
schon an. 90 Prozent Emissionsreduktion bis 2040
sollen
es diesmal
werden. Doch anders als vor vier Jahren sind die Zweifel
groß, ob dieses Ziel überhaupt mehrheitsfähig ist. Davon zeugen
die
eingebauten Flexibilitäten. Europa will die Einsparungen nicht
mehr
komplett selbst erreichen, sondern auch Klimaschutzmaßnahmen auf
anderen Kontinenten finanzieren. Dahinter steckt auch ein
Paradigmenwechsel: nicht noch mehr Klimaschutz.
Vertiefen, reformieren oder gar abbremsen: Wie soll es
weitergehen mit dem Green Deal? Zunächst wird
allein
die Umsetzung des bereits Beschlossenen noch Jahre dauern. Die
Regierungen machen aber auch Druck auf die Kommission, begonnene
Reformen zu vertiefen. So will der Rat im Dezember über ein
Weißbuch
für eine grundlegende Strommarktreform beraten – mit dem Ziel,
den
scheinbar unaufhaltsamen Preisanstieg zu begrenzen.
Die Grünen fordern, den Green Deal nicht auf der Mitte
des
Weges abzubrechen. „Der Green Deal ist kein
Nice-to-have, er ist das Rückgrat einer zukunftsfähigen Union“,
sagt
der Abgeordnete Michael Bloss. Wer jetzt den Mut verliere,
riskiere
nicht nur das Klima, sondern auch Europas wirtschaftliche Stärke
und
strategische Souveränität. Die EVP hat dagegen schon bei der
Vorstellung des Klimaziels für 2040 für mehr Flexibilität
geworben.
„Wer Flexibilität bekämpft, leistet einen Beitrag dazu, dass es
überhaupt kein 2040-Klimaziel gibt”, hatte der Abgeordnete Peter
Liese (CDU) gesagt. Der Widerstand anderer Mitgliedstaaten gegen
die
90 Prozent sei sehr stark.
Andere locken mit dem zweifelhaften Versprechen, die
Kosten
des Green Deals durch eine „zeitliche
Streckung“ senken zu können. Dazu
passt in Deutschland etwa die Erzählung, der Strombedarf steige
nicht so schnell wie geplant, deshalb brauche es weniger
Leitungen
und Erneuerbare.
Die Politik könnte aber die Kosten zeitlich strecken und
nicht die Dekarbonisierung. Entsprechende
Finanzierungsideen wie ein Amortisationskonto für den Netzausbau
gibt es bereits. Nötig ist echte Kostenwahrheit: Netze etwa sind
die
günstigste Form der Speicherung.
Wirklich sparen ließe sich durch harte Regulierung und
das
Abschöpfen hoher Erlöse. Außerdem durch den
Verzicht
auf Extrawünsche wie Erdkabel und indem die Verantwortlichen
unangenehme Debatten angehen. Etwa wie jene zur Flexibilisierung
der
Nachfrage. Die jüngste Zusage von Google
zum Abregeln von Rechenzentren bei hohem Strombedarf zeigt:
Fortschrittliche Unternehmen finden Möglichkeiten, die
Dekarbonisierung zu unterstützen.
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E-Fuels: Im Herbst stellt die
Kommission
die Weichen für die Zukunft
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Von
Markus Grabitz
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Über kaum ein anderes Thema wird seit Jahren so heftig und
ideologisch gestritten wie über das Verbrenner-Aus. Und damit
auch
über die Frage, welche
Rolle E-Fuels bei der Dekarbonisierung im Verkehr
spielen
können. Denn wasserstoffbasierte, kohlenstoffarme Kraftstoffe
könnten der Verbrennertechnologie eine Brücke in die Zukunft
bauen,
deren Aus im Jahr 2035 im EU-Gesetzblatt steht.
Umweltverbände wie T+E lehnen E-Fuels im
Individualverkehr
auf der Straße ab. Wie Umweltpolitiker von Grünen
und
Sozialdemokraten begründen sie dies mit dem hohen Energiebedarf,
der
zur Herstellung nötig ist. Kohlenstoffarme Kraftstoffe seien rar
und
würden für den Luft- und Schiffsverkehr gebraucht, argumentieren
sie. Batterieelektrische Lösungen seien effizienter und das
E-Auto
marktreifer als mit E-Fuels betriebene Verbrenner. Daher
verteidigen
sie das Verbrenner-Aus im Jahr 2035 vehement. Dabei könnten sie
aus
Klimaschutzgründen den Einsatz von kohlenstoffarmen Kraftstoffen
begrüßen.
Die EU-Kommission setzte unter Frans Timmermans alles auf
das
E-Auto. Schon nach der Vorlage für die
Fit-for-55-Gesetze Mitte Juli 2021 beklagte Ralf
Diemer von der eFuel-Alliance,
dass E-Fuels von der EU-Regulierung benachteiligt würden.
Seitdem hat die Kommission zwei Gesetze durchgebracht,
die
E-Fuels voranbringen. So sieht die
Erneuerbare-Energien-Richtlinie (RED III) eine verbindliche
Unterquote von einem Prozent für erneuerbare Kraftstoffe nicht
biogenen Ursprungs (RFNBO) vor. Die Mitgliedstaaten haben die
Möglichkeit, in der Umsetzung höhere Quoten festzusetzen. Einige
machen davon auch Gebrauch, etwa Finnland (4,1 Prozent) und Deutschland
(zwei Prozent im Jahr 2032). In der Industrie müssen RFNBO bis
2030
schon 42 Prozent des Wasserstoffverbrauchs ersetzen.
Zudem gibt es Quoten für E-Fuels in der Schiff- und
Luftfahrt. Die FuelEU-Maritime- und die ReFuelEU-Aviation-Regulierung
sehen verbindliche Unterquoten von einem beziehungsweise 1,2
Prozent
für E-Fuels für 2030 vor, die danach ansteigen. Durch diese
Änderungen „kommt Zug in die Produktion für E-Fuels“, sagt
Diemer.
Diemer kritisiert aber strenge Vorgaben der EU.
Unzufrieden ist der Lobbyist nach wie vor mit zwei Delegierten
Rechtsakten, die Kriterien für die Anerkennung von E-Fuels
knüpfen.
Es geht um Vorgaben zur Quelle des Stroms sowie des CO₂, das für
die
Produktion von E-Fuels gebraucht wird. „Diese strengen Vorgaben
führen dazu, dass Investoren in der EU keinen Businesscase
sehen.“
Bei E-Fuels für Autos herrscht regulatorisch angespannte
Ruhe. Die Kommission hatte sich auf Druck der
Bundesregierung im Trilog der CO₂-Flottengrenzwerte
verpflichtet,
regulatorisch eine „E-Fuels only“-Kategorie für Pkw und leichte
Nutzfahrzeuge zu schaffen. Die Behörde wollte daraufhin zur
Bedingung machen, dass E-Fuels im Auto zu 100 Prozent CO₂-frei
sind.
Diemer entgegnet: „100 Prozent sind technisch nicht möglich.“
Der
Vorschlag der Kommission wurde in dem dafür zuständigen Gremium
Technical Commitee on Motor Vehicles (TCMV) nicht weiter
behandelt.
Nach der Sommerpause soll es Klarheit geben.
Dann
findet auf Chefebene der nächste Strategische
Dialog zur Zukunft der Automobilindustrie unter der
Leitung
von Ursula von der Leyen statt. Die Hersteller und die EVP
mahnen
einen technologieoffenen Ansatz beim Review der
CO₂-Flottenregulierung an. Die Einführung eines
Carbon-Correction-Faktors würde Herstellern den Einsatz von
E-Fuels
attraktiv machen.
Sie würden dafür im Gegenzug bei den
CO₂-Flottengrenzwerten
entlastet. Die eFuel-Alliance sowie die EVP setzen
sich
dafür ein, dass die Delegierten Rechtsakte, die einem Hochlauf
entgegenstehen, im Zuge eines geplanten Omnibus-Gesetzes
Automotive
angepasst werden.
Der industrielle Hochlauf der E-Fuel-Produktion liegt im
Plan
zurück. So hatte sich Porsche 2022 am
E-Fuels-Projektunternehmen HIF-Global beteiligt. Damals hieß es,
in
der Pilotanlage HaruOni im windreichen Süden Chiles sollten 2025
bereits 150.000 Tonnen E-Methanol produziert werden.
Gleichzeitig
sollte die kommerzielle Anlage hochgefahren werden, für 2027
waren
dort 1,3 Millionen Tonnen im Gespräch. Nun teilt Porsche mit,
dass
2024 „weniger als 100.000 Tonnen produziert wurden.“ Der
Hochlauf in
weiteren Ausbaustufen und an verschiedenen Produktionsorten der
HIF
gestalte sich kompliziert: Man leide unter „insgesamt
schwierigen
Rahmenbedingungen (lokale Genehmigungen, politisches und
regulatorisches Umfeld, geopolitische Spannungen sowie
internationale Investitionsbereitschaft)“.
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News
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LNG: Kommission prüft Investitionen in
US-Gasinfrastruktur
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Die EU-Kommission will weiter die Möglichkeit untersuchen,
Investitionen in US-amerikanische Exportterminals für Flüssiggas
zu
unterstützen. Bislang habe sich die Behörde noch für keine
konkrete
Option entschieden, sagte ein EU-Beamter am Mittwoch zu
Table.Briefings. „Aber die EU ist entschlossen,
gemeinsam
mit den USA mögliche Investitionen – einschließlich in die
LNG-Exportinfrastruktur der USA – zu ermitteln und – sofern dies
sinnvoll und relevant erscheint – zu erleichtern.“
Entsprechende Pläne hatte die Kommission erstmals im
Februar
kundgetan. Im Aktionsplan
für erschwingliche Energie hatte Energiekommissar Dan Jørgensen
geschrieben, die EU oder die Mitgliedstaaten könnten europäische
Importeure bei Direktinvestitionen in Exportinfrastrukturen im
Ausland unterstützen, indem sie privaten Investoren Darlehen zu
Sonderbedingungen gewähren.
Eine andere Initiative der EU könnte schon im September
starten. Nach dem Energiedeal mit den USA hatte die
Kommission eine Erklärung
veröffentlicht, in der sie ihr Verständnis der Absprache
niederschrieb. Darin hatte sie angekündigt, den Mechanismus zur
Nachfragebündelung und gemeinsamen Gasbeschaffung AggregateEU zu
nutzen, um Nachfrage von europäischen Unternehmen mit Angeboten
von
US-Flüssiggas für den Zeitraum 2025 bis 2050 zu matchen. Die
Nachfragebündelung könne schon im September starten, hatte ein
EU-Beamter in dieser Woche erklärt. „Wir sind dazu bereit, wenn
Interesse und Bedarf bestehen“, hieß es nun.
AggregateEU unterscheidet sich nach Kommissionsangaben
aber
von dem neuen und dauerhaften Mechanismus zur
Gasbeschaffung. Diesen will die Kommission im
Rahmen
der kürzlich ins Leben gerufenen EU-Energie- und
Rohstoffplattform
entwickeln. Der neue Mechanismus soll 2026 in Betrieb genommen
werden. Manuel Berkel
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Digitalregulierung: Verbände fordern
industrietaugliche Lösungen im Omnibus
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Die Verbände VDMA, ZVEI, VCI und der Verband der Pharmazeutischen
Industrie fordern, dass durch den angekündigten
Digital-Omnibus die europäische Regulierung
industrietauglich gestaltet wird. In
einem Brief an den deutschen Digitalminister Karsten
Wildberger warnen die Verbände davor, dass die in der Industrie
vorhandenen Datenschätze ansonsten nicht gehoben werden könnten.
Dies treffe vor allem für
den AI Act, den Data Act und den Cyber Resilience Act
zu.
Sie fordern unter anderem, industrielle KI aus dem
Anwendungsbereich der KI-Verordnung zu nehmen. Der
One-size-fits-all-Ansatz führe in der Industrie zu
Doppelregulierungen und Rechtsunsicherheiten. Die Nutzung von
Maschinen und Komponenten sei im New Legislative Framework
bereits
umfassend reguliert.
Kritik üben sie auch am Data Act. Das Teilen von
Daten müsse im geschäftlichen Umfeld weiterhin auf
Freiwilligkeit
und vertraglichen Vereinbarungen beruhen. Richtig sei hingegen,
Datenrauminitiativen wie Manufacturing-X und sphin-X zu
ermöglichen.
Die Verbände verlangen auch längere Umsetzungsfristen.
Der Anwendungsbeginn der Rechtsakte müsse sich an der
Verfügbarkeit harmonisierter Normen und Normenentwürfe sowie an
ausreichend Zeit zur Anwendung orientieren. Corinna
Visser
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Presseschau
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The Economist
Wer spürt die Auswirkungen von Trumps Zöllen?
Der Economist geht der Frage nach, wer eigentlich die neuen
US-Zölle
bezahlt. Die heimischen Konsumenten seien es bislang nicht, wie
Daten zur Inflation zeigen. Allerdings könne es wegen der
wochenlangen Transportwege noch dauern, bis Exporteure ihre
Preise
erhöhen. Viel wahrscheinlicher sei aber, dass Produzenten
vorerst
auf Gewinne verzichten.
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Le Soir
Airbnb: Brüsseler Behörden verschicken 1900
Bußgeldbescheide
Seit Ende Juli verschicken die Steuerbehörden der belgischen
Hauptstadt Brüssel die ersten Bußgeldbescheide, schreibt die
belgische Tageszeitung Le Soir. 1900 sollen allein für das Jahr
2022
rausgegangen sein. Es geht um die nicht angemeldete Vermietung
von
Ferienunterkünften über die Plattform Airbnb.
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Financial Times
Polens neuer Präsident Karol Nawrocki fordert Premier Donald
Tusk heraus
Karol Nawrocki wurde am Mittwoch als neuer polnischer Präsident
vereidigt. Der von der PiS vorgeschlagene Nawrocki sagte bei
seiner
ersten Ansprache vor dem Parlament, Polen sei nicht auf dem Pfad
des
Rechts und kündigte erwartungsgemäß Widerstand gegen Tusks
Reform
des Justizsystems an.
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Bloomberg
Schweizer Bundespräsidentin verlässt Washington ohne
niedrigere
Zölle
Die Schweizer Bundespräsidentin verlässt Washington, ohne eine
Senkung der Zölle für die Schweiz erwirkt zu haben, berichtet
Bloomberg. US-Präsident Donald Trump hatte Zölle von 39 Prozent
für
die Schweiz verkündet. Eine Delegation unter der Leitung von
Karin
Keller-Sutter war am Dienstag in die US-Hauptstadt geflogen, um
Trump zu überzeugen. Die Höhe von Trumps Zöllen habe die
Schweizer
überrascht, nachdem die Gespräche vielversprechend schienen.
Wenn
der Zollsatz von 39 Prozent flächendeckend in Kraft treten
würde,
wäre laut Bloomberg Economics mittelfristig bis zu ein Prozent
der
Schweizer Wirtschaftsleistung gefährdet.
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Documents
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Gaza-Krieg: Mehrere Fraktionsvorsitzende im
EU-Parlament werfen Israel in einem Schreiben an Ursula von der
Leyen, Kaja Kallas und António Costa Völkermord im Gazastreifen
vor
und drängen auf eine sofortige Reaktion der EU-Spitzen. Zum
Schreiben
Tabaksteuer: Impaktanalyse zu
Verbrauchsteuer-Vorschriften für Tabakwaren. Zum
Dokument
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Dessert
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Beim Döner sind sich viele Mitgliedstaaten ausnahmsweise einig:
Das
Gericht soll nicht als garantiert traditionelle Spezialität
eingetragen werden. (Imago / Funke Foto Services)
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Die Last des Dönerspießes
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Von
Manuel Berkel
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Wie oft haben wir über Differenzen unter den EU-Staaten
berichtet,
wenn es um Sachfragen wie Atomkraft oder gemeinsame Schulden
ging.
Gut, dass sich die Europäer in einer Sache einig sind: Der Döner
gehört allen! Diese Nachricht von Agrarkommissar Christophe
Hansen
erreichte uns am Mittwoch gerade noch rechtzeitig vor der
Mittagspause, mitten in der Produktion unserer Jubiläumsausgabe.
Sie erinnern sich. Die International Doner
Federation aus der Türkei hatte beantragt, den Döner in der EU
als
garantiert traditionelle Spezialität zu registrieren. Die
Fleischtasche stünde dann in einer Reihe mit holländischem
Matjes,
neapolitanischer Pizza und belgischem Kirschbier. Kollegen von
anderen Medien spekulierten geradewegs über steigende Preise und
„Drehspießbuden“.
Beim Blick in den Antrag lernt man so einiges darüber,
was
einen echten Döner ausmacht. Nicht nur wird darin
die Würzmischung offenbart. Man lernt, dass der Fleischblock
ei-,
pendel- oder kegelförmig zuzuschneiden sei und Bayern eine
offizielle Schulung zum Thema „Döner-Kebab-Schlachter/in oder
Döner-Kebab-Spezialist/in“ anbiete. Markus #söderisst
gefällt das.
Der verwegene Döner-Antrag aus der Türkei rief die
polnische
PiS auf den Plan. „Die deutsche Art der Zubereitung
von
Döner Kebab hat in ganz Europa große Popularität erlangt,
insbesondere in Polen“, schrieb
der Abgeordnete Kosma Złotowski an die Kommission. Die Menschen
in
Polen würden laut Untersuchungen täglich bis zu fünf Millionen
Kebabs verzehren. Besorgt fragte der PiS-Politiker, ob demnächst
alle Döner in der EU nach einem einzigen Rezept herzustellen
seien?
Und würden regionale Varianten als eigene Spezialitäten
anerkannt?
Nicht nur Polen sorgte sich. Viele
Mitgliedstaaten
hätten sich gegen die Registrierung von Döner als garantiert
traditionelle Spezialität ausgesprochen, antwortete
Agrarkommissar Hansen am Mittwoch. Die Kommission müsse nun
entscheiden – „unter Berücksichtigung aller vom Antragsteller
und
den Gegnern vorgelegten Elemente“. Die Last des Drehspießes
wiegt
nun schwer auf Hansens Schultern.
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Bei sämtlichen Beiträgen in diesem Briefing sind alle Rechte
vorbehalten,
insb. gem. Paragraph 49 und Paragraph 44b UrhG.
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Europe
Redaktion
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